Das Absehen vom Regelfahrverbot als Ausnahme

Wenn durch die Bußgeldkatalog-Verordnung die Anordnung eines Fahrverbots wegen der unterstellten Gefährlichkeit des begangenen Verkehrsverstoßes angezeigt ist, kommt ein Absehen vom vorgenannten Regeltatbestand nur dann in Betracht, wenn Härten ganz außergewöhnlicher Art vorliegen oder sonstige, das äußere oder innere Tatbild beherrschende außergewöhnliche Umstände ein Absehen von dieser Sanktion rechtfertigen.

Im Laufe vieler Jahre haben sich in der Rechtsprechung viele Fallgruppen herausgebildet, in denen nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls ausnahmsweise von der Verhängung eines Fahrverbots - mit oder auch ohne Kompensation durch eine Erhöhung der Geldbuße - abgesehen werden kann. Die Fülle der teilweise auch divergierenden Rechtsprechung lässt eine erschöpfende Erläuterung der Ausnahmegestaltungen in diesem Rahmen nicht zu. Die hauptsächlichen Fallgruppen sind

  • das sog. Augenblicksversagen;
  • die Existenzgefährdung bei Selbständigen;
  • der drohende Verlust des Arbeitsplatzes bei abhängig Beschäftigen;
  • extrem langer Zeitablauf zwischen Vorfall und Urteil;
  • besondere persönliche Umstände
  • besondere Umstände des Einzelfalls bei der Tatbegehung.

Von einem Augenblicksversagen kann dann ausgegangen werden, wenn dem Betroffenen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls (z. B. Geschwindigkeitstrichter vor der Messstelle, Baustellen-Einrichtung, Ortsschild und zusätzlich die Art der Bebauung usw.) nicht widerlegt werden kann, daß es sich um eine nachvollziehbare nur leicht schuldhafte Nachlässigkeit handelt.

Bei Existenzgefährdung bzw. beim drohenden Arbeitsplatzverlust sind an ein entsprechendes Vorbringen des Betroffenen strenge Beweisanforderungen zu stellen. Das Gericht darf sich in einem solchen Fall keineswegs einfach mit den Angaben des Betroffenen begnügen, sondern muss verfügbaren Überprüfungsmöglichkeiten nachgehen und die tatsächlichen Grundlagen seiner Annahme im Urteil für eine Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht eingehend darlegen.

Ein extrem langer Zeitablauf seit dem Vorfall, der dazu führt, dass sich die Denkzettelfunktion des Fahrverbots nicht mehr auf das Verhalten des Betroffenen auswirken wird, der sich inzwischen verkehrsrechtlich einwandfrei bewährt hat, ist anzunehmen, wenn inzwischen zwei Jahre verstrichen sind. Ein Zeitraum von einem Jahr ist hier für noch nicht ausreichend.

Besondere persönliche Umstände können z. B. vorliegen, wenn ein äußerst schwer Gehbehinderter auf das Fahren als einzige Fortbewegungsmöglichkeit angewiesen ist. Andererseits ist aber auch schon entschieden worden, dass der Richter nicht gehindert ist, auf Grund der besonderen Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen mit Sicherheit davon ausgehen zu können, dass künftig keine Verkehrsverstöße mehr vorkommen werden. Vereinzelte Versuche der Gerichte, schon wegen des Berufes des Betroffenen (z. B. bei einem auf seine Einnahmen für den Lebensunterhalt angewiesenen Taxifahrer) vom Fahrverbot abzusehen, sind von anderen Gerichten eher kritisch betrachtet worden.

Hingegen sind in der Rechtsprechung eine Vielzahl von Fällen entschieden worden, in denen die besonderen Umstände des konkreten Einzelfalls ein Absehen von der Verhängung eines Fahrverbots zuließen; hierzu gehört z. B. der sog. Mitzieheffekt (ein an der roten Ampel wartender Fahrzeugführer setzt reflexartig seinen Wagen in Bewegung, weil neben ihm ein anderer bei Rot anfährt). Auch hierzu gehören Fälle von Geschwindigkeitsüberschreitungen, in denen beispielsweise ein Taxifahrer einen Fahrgast mit einem akuten Schwächeanfall ins nächste Krankenhaus bringt. Überhaupt wird sich ein Gericht notstandsähnliche Fälle immer daraufhin genauer ansehen, ob es tatsächlich der Denkzettelfunktion des Fahrverbots neben der ggf. auch zu verdoppelnden Geldbuße bedarf, um künftiges Verkehrswohlverhalten zu sichern.

Da es sich immer um Ausnahmeentscheidungen handelt, in denen der Richter wegen der Kontrollfunktion des Rechtsbeschwerdegerichts besonderen Begründungsaufwand betreiben muss, wenn er von dem als Regelsanktion vorgeschriebenen Fahrverbot absehen will, hat hier auch der Betroffene eine weitgehende Darlegungspflicht und kann sich nicht einfach auf den auch hier geltenden Grundsatz "Im Zweifel für den Betroffenen" verlassen.